«Die Wahrheit und das Recht sind von Natur aus immer stärker als die Lügen und das Unrecht.»
Aristoteles
Der Anspruch auf nachehelichen Unterhalt hängt davon ab, von welcher Natur die Ehe ist. Die Rechtsprechung unterscheidet zwischen kurzen und lebensprägenden Ehen.
Bei solchen Ehen wird angenommen, dass das Zusammenleben mit einem Partner das Leben der Ehegatten nicht nachhaltig geprägt hat. Den Ehegatten wird deshalb zugemutet, wieder dort anzuknüpfen, wo sie vor der Ehe standen.
Das bedeutet, dass sich die Ehegatten nach der Auflösung der Ehe keinen nachehelichen Unterhalt schulden. In speziellen Situationen ist denkbar, dass für eine kurze Übergangszeit ein Unterhaltsanspruch besteht. Hat z.B. ein Ehegatte wegen der Eheschliessung seine Ausbildung unterbrochen und will er sie nach der Scheidung wieder aufnehmen, könnte er bis zum Abschluss der Ausbildung Unterhalt geltend machen. Denn ohne Ehe hätte er die Ausbildung schon beendet und wäre wirtschaftlich selbständig.
Im Allgemeinen kann man sagen, dass eine Ehe das Leben prägt, wenn zumindest ein Ehegatte sein bisheriges Leben zu Gunsten der Ehe umstellt und dass die Ehegatten zusammen einen Lebensplan für ihr gemeinsames Leben entwerfen. Das heisst aber auch, dass eine Ehe, in welcher jeder Ehegatte sein eigenes Leben führt, nicht lebensprägend ist. Wenn also die Ehegatten nicht zusammenwohnen, jeder seiner bisherigen Erwerbstätigkeit nachgeht und jeder für seinen Lebensunterhalt selbst aufkommt, hat die Ehe das Leben der Ehegatten aus rechtlicher Sicht nicht geprägt.
Dies gilt selbst, wenn aus der Ehe keine Kinder hervorgegangen sind. In jedem Fall lebensprägend sind Ehen, aus welchen gemeinsame Kinder hervorgegangen sind.
Auch unter den lebensprägenden Ehen gibt es prägendere und weniger prägende Ehen. Wenn die Ehegatten nur ein Kind haben und beide ihre Erwerbstätigkeit nach der Geburt des Kindes zu 100 % weiter ausüben, ist die Ehe weit weniger prägend, wenn sie sich nach zwei Jahren trennen, als wenn eine Frau ihre Erwerbstätigkeit bei der Heirat aufgibt, vier gemeinsame Kinder grosszieht und die Ehe 25 Jahre dauert.
Ist die Ehe lebensprägend, hat jeder Ehegatte Anspruch darauf, den Lebensstandard weiterleben zu können, den die Ehegatten während der Ehe gelebt haben. Der Lebensstandard wird durch die Ausgaben definiert, welche die Ehegatten während der Ehe für den gemeinsamen Haushalt gemacht haben. In aller Regel entspricht dies dem Einkommen, welches den Ehegatten zur Verfügung gestanden hat.
Da es in der Regel teurer ist, zwei Haushalte zu führen als einer, können die Ehegatten den ehelichen Lebensstandard häufig nach der Trennung nicht mehr aufrechterhalten. In diesem Fall haben die Ehegatten Anspruch darauf, dass sie den gleichen Lebensstandard wie der jeweils andere leben können.
Ist der eheliche Lebensstandard einmal definiert, stellt sich die Frage, ob der anspruchsberechtigte Ehegatte diesen Lebensstandard durch eigene Erwerbstätigkeit selbst sicherstellen kann. Es stellt sich also die Frage nach der Eigenversorgungskapazität des anspruchsberechtigten Ehegatten.
Die Eigenversorgungskapazität kann aus mehreren Gründen eingeschränkt sein. Der wichtigste Grund ist die Betreuung von Kindern. Früher war ein Ehegatte, der Kinder betreut, nicht verpflichtet, zu arbeiten, bis das jüngste Kind 10 Jahr alt war. Bis zum 16. Altersjahr des jüngsten Kindes wurde ihm zugemutet, 50 % zu arbeiten. Wenn das jüngste Kind 16 Jahre alt geworden war, war der betreuende Ehegatte verpflichtet, 100 % zu arbeiten. Diese sogenannte 10/16-Regel hat das Bundesgericht im Jahr 2018 durch das Schulstufenmodell ersetzt.
Nach dem Schulstufenmodell besteht nur im Kleinkindalter keine Pflicht zu arbeiten. Ab dem Eintritt des jüngsten Kindes in die obligatorische Schule muss der kinderbetreuende Elternteil 50 % arbeiten, ab dem Eintritt in die Oberstufe 80 % und ab dem 16. Altersjahr des jüngsten Kindes 100 %.
Hat die Familie vier oder mehr Kinder oder benötigt ein Kind besonders viel Betreuung, weil es z.B. behindert ist, kann von dieser Regel abgewichen werden. Arbeitet der betreuende Elternteil während des Zusammenlebens mehr als er gemäss Schulstufenmodell müsste, kann er im Fall der Trennung sein Pensum nicht reduzieren.
Die Eigenversorgungskapazität kann durch Krankheit reduziert sein. Wird ein Ehegatte während der Ehe invalid, beschränkt sich seine Erwerbsfähigkeit auf die Renteneinkünfte, welche deutlich tiefer sein können als das Erwerbseinkommen, das er bei voller Gesundheit erzielen könnte.
Ein weiterer Grund für eine Einschränkung der Eigenversorgungskapazität ist das Alter. Ende der 80er-Jahre hat das Bundesgericht die Vermutung aufgestellt, dass ein Ehegatte, der die Erwerbstätigkeit aufgegeben hat, um die Kinder zu betreuen, nicht wieder in das Erwerbsleben zurückfinden kann, wenn er bei der Scheidung das 45. Altersjahr überschritten hatte. Diese Regel war noch vom alten Eherecht beeinflusst, welches bis 1987 vorsah, dass die Ehefrau ihren Beitrag an die eheliche Gemeinschaft ausschliesslich durch die Führung des Haushalts und die Erziehung der Kinder leistete.
Diese Regel ist im Laufe der Jahre verändert worden, indem die Altersgrenze sich 50 Jahren angenähert hat und es auf den Zeitpunkt der Trennung ankam. Im Jahr 2021 hat das Bundesgericht diese Regel definitiv aufgegeben. Das Alter ist nicht mehr allein ein Kriterium, um die Eigenversorgungskapazität zu verneinen. Es kommt neben dem Alter auf die Gesundheit, die Ausbildung, die berufliche Erfahrung, die Lage auf dem Arbeitsmarkt etc. an.
Kann der unterhaltsberechtigte Ehegatte den ehelichen Lebensstandard nicht mit seinem eigenen Einkommen decken, hat er Anspruch auf einen nachehelichen Unterhalt. Dies setzt jedoch voraus, dass der andere Ehegatte finanziell in der Lage ist, einen Unterhaltsbeitrag zu bezahlen.
Bei einer Scheidung werden in der Regel der Bar- und der Betreuungsunterhalt für die Kinder und der nacheheliche Unterhalt festgesetzt. Der Unterhalt wird dabei in den meisten Fällen nach dem System der Existenzminimumberechnung mit Überschussverteilung berechnet.
Bei dieser Berechnungsmethode werden die Existenzminima aller Familienmitglieder berechnet. Ist das Gesamteinkommen der Familie höher als die Summe aller Existenzminima hat die Familie einen Überschuss. Dieser Überschuss wird anschliessend nach grossen und kleinen Köpfen verteilt, z.B. je ein Drittel für die Eltern und je ein Sechstel für die zwei Kinder. Vom so errechneten Anspruch wird je das eigene Einkommen abgezogen. Die Differenz ist der zu bezahlende Unterhaltsbeitrag.
Zum nachehelichen Unterhalt gehört der Vorsorgeunterhalt. Grundlage dafür ist, dass der voll erwerbstätige Ehegatte seine Vorsorge nach der Scheidung trotz Unterhaltszahlungen weiter ausbaut, da die Beiträge an die berufliche Vorsorge vom Lohn abgezogen werden. Demgegenüber kann der kinderbetreuende Elternteil seine Vorsorge nicht voll aufbauen, solange er durch die Kinderbetreuung an der Ausübung einer vollen Erwerbstätigkeit gehindert ist. Dadurch bezahlt er keine oder kleinere Beiträge in die berufliche Vorsorge ein. Der Vorsorgeunterhalt soll diese Lücke füllen. Der berechtigte Ehegatte kann den Vorsorgeunterhalt z.B. dazu verwenden, sich bei seiner Pensionskasse in die vollen Leistungen einzukaufen.
Der nacheheliche Unterhalt ist geschuldet, bis der berechtigte Ehegatte ein Einkommen erzielt, mit welchem er den ehelichen Lebensstandard selbst finanzieren kann. Erreicht er diese Limite nicht, wird der nacheheliche Unterhalt in der Regel bis zur Pensionierung des verpflichteten Ehegatten befristet. Die Begründung dafür ist, dass mit der Pensionierung das Einkommen sinkt und der verpflichtete Ehegatte nicht mehr in der Lage ist, weiter Unterhalt zu bezahlen. Es kommt hinzu, dass der berechtigte Ehegatte durch das Splitting in der AHV und den Vorsorgeausgleich für die Zeit nach der Pensionierung bereits abgefunden worden ist.
Aristoteles
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